Der Mensch und das Wasser: Ein Schritt zurück mit Selma Lagerlöf
In ihrem landeskundlichen Bildungsroman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ (1) erzählt Selma Lagerlöf die Geschichte eines schwedischen Binnensees, des Tåkern. Dieser See liegt in Östergötland und ist ein wunderbares Vogelhabitat. Tausende Vögel finden sich hier jährlich ein, brüten und ziehen ihre Jungen groß.
Bereits im 19. Jahrhundert war der See allerdings immer wieder durch Entwässerungen verkleinert worden, um Weide- und Ackerland zu gewinnen. Es ist übrigens gut möglich, dass dies die Attraktivität des Sees für die Vögel vergrößert hat, denn das Wasser wurde flacher, und an den Ufern entstanden große Feuchtgebiete. Aber nun, in der Zeit des Romans, also um 1900, wird eine weitere, noch radikalere Trockenlegung diskutiert, die diesen Zustand gefährdet. Eine verwirrende Begebenheit gibt den Ereignissen allerdings eine Wendung.
Die am See lebenden Bauern hatten bei der Jagd an seinen Ufern einen jungen Enterich angeschossen. Da der kleine Vogel in seinem verletzten Zustand davonflog und ausgerechnet auf deren Hofstelle niederging, entschließen sich die Bauern, den Enterich gesund zu pflegen. Sie nennen ihn Jarro. Der Vogel wird in die Hofgemeinschaft aufgenommen, sodass ihn selbst der Jagdhund verschont, dessen Leidenschaft es doch sonst ist, Enten zu jagen. Besonders der kleine Sohn der Bäuerin und des Bauern ist von früh bis spät mit dem Enterich befasst, er spricht und spielt mit ihm, sodass das Tier schließlich zutraulich wird.
Aber nun wird der Enterich als Lockvogel benutzt, um wiederum andere Enten vor die Flinte zu rufen, und er ist, gefangen in dieser menschlichen List, vollkommen verzweifelt. Und als schließlich die Hofkatze berichtet, die Menschen hätten vor, den Tåkern gänzlich trockenzulegen, um neues Ackerland zu gewinnen, ist der Vogel von Schmerz und Enttäuschung über die Menschen überwältigt.
Ganz gleich, was ein kleiner Enterich nun wirklich empfinden oder begreifen kann, das Gefühl der Empörung ist für die Leser doch plausibel. Jarro kann jedenfalls mit etwas Hilfe in das Dickicht des Schilfs fliehen und möchte den Menschen nie wieder begegnen. Aber nun ist der kleine Junge vom Bauernhof beunruhigt, denn er sucht seinen liebsten Spielfreund und läuft zum Seeufer hinab, um dort nach ihm zu rufen. Als er ihn nicht entdeckt, folgert er, dass er draußen auf dem See zu finden sein muss und setzt sich in ein altes Boot. Das Boot aber ist leck und der Junge droht zu ertrinken.
Das Kind gerät auf eine winzige Schilfinsel, wo es, umgeben von einer Schar Wildgänse, sehr vergnügt ist. Hier findet ihn dann auch der Jagdhund des Hofes, dem der Junge eigentlich anvertraut gewesen war, und der sich schlechten Gewissens aufgemacht hatte, ihn zu suchen. So unverhofft aufeinandergetroffen, verständigen sich die Tiere über die geplante Trockenlegung des Sees. Auch der Hund ist außer sich. Aber Akka von Kebnekajse, die alte Leitgans der Schar, sagt zu ihm: „… wenn du die Vögel wirklich hier am Tåkern behalten möchtest, dann müsstest du den Eltern nicht so bald mitteilen, wo das Kind zu finden sei“ (2). Akka, so heißt es in dem Buch, ist eine kluge Gans und sie weiß, was der Verlust eines Jungen in Mensch und Tier auslöst.
Und richtig, die Menschen geraten in Unruhe und bald auch in Verzweiflung, denn sie suchen erfolglos nach dem Jungen. In diesen bangen Stunden zieht es seine Mutter zum See hinunter, und sie geht in sich. Sie sieht das Wasser und die Vögel, all das Leben. Und dann meint sie, das Verschwinden ihres Sohnes sei wohl eine Strafe Gottes für ihre Pläne mit dem See, denn das, was hier vernichtet würde, seien ja auch lauter Kreaturen mit ihren Kindern, die um diese sicher nicht weniger fürchteten als sie um ihren Sohn. Und da ihre Familie unter den Bauern die einflussreichste und am meisten von der Trockenlegung profitierende ist, bittet sie ihren Mann, den Plan fallenzulassen und ihn auch den anderen Bauern wieder auszureden. Und ihr Mann stimmt dem zu.
Als nun aber der Hund dieses Gespräch der Menschen hört, springt er auf und führt sie zu dem kleinen Jungen, der, inzwischen müde und ängstlich geworden, weinend auf der Schilfinsel sitzt und von den glücklichen Eltern geborgen wird. Diese aber halten sich an ihr gegenseitiges Versprechen und geben die Trockenlegung des Tåkern auf. Bis heute ist er einer der bedeutendsten Vogelseen Schwedens.
Selma Lagerlöf ist heute nicht mehr in Mode. Aus Nils Holgersson ist eine harmlose Trickfilmfigur geworden, obwohl er doch viel zu erzählen hat, vor allem über das Verhältnis von Mensch und Natur. Das würde gerade unseren heutigen Umweltdebatten gut tun. Interessant ist zum Beispiel, dass die Mutter in der Furcht und in der beginnenden Trauer um ihren Jungen zu dem Schluss kommt, der See sollte erhalten bleiben. Nach den Maßstäben heutiger Eltern müsste eine solche Reaktion ganz anders ausfallen. Die meisten würden in Zorn über den See geraten und nun erst recht seine Austrocknung fordern. Die Mutter in dem Roman dagegen entscheidet genau umgekehrt. Warum tut sie das?
Weil sie naiv war, werden einige sagen, weil sie an Gott geglaubt hat und daran, dass er strafen könne. Aber ich meine, wer die Rede von der Strafe so auffasst, versteht sie nicht richtig. Die Mutter hat ein Wissen davon, in welch schwierige Dialektik wir Menschen geraten, wenn wir uns — was unvermeidlich ist — mit der Natur einlassen.
Im Bewusstsein dieser Bäuerin gibt es keine unschuldige Position. Daraus folgert sie aber nicht, dass man alle Bedenken gegen das menschliche Handeln vom Tisch wischen sollte, frei nach dem Grundsatz: Wir können uns ohnehin nicht naturgemäß verhalten, also ist es auch egal. Im schlimmsten, grausamsten Moment des Verlustes ist sie bereit, einen Schritt zurückzutreten. Und aus dieser zweiten Position heraus sieht sie die Dinge in einem anderen Licht.
Das Oderbruch und die Beherrschung des Wassers — eine Debatte
Was hat das Ganze mit dem Oderbruch zu tun, dieser brandenburgischen Landschaft am östlichen Rand Deutschlands, direkt an der Oder, und somit an der deutsch-polnischen Grenze? Nun, auch das Oderbruch wurde und wird ja trockengelegt, und man muss nicht lange recherchieren, um in Erfahrung zu bringen, dass auch dieser menschliche Eingriff für viele Tiere und Pflanzen den Verlust ihres Lebensraumes bedeutet hat.
Der Fisch- und Vogelreichtum des Oderbruchs soll sagenhaft gewesen sein, und die hier lebenden Fischer waren mit ihrer Lebensweise an das Ökosystem gut angepasst. Angesichts dieser gewaltigen Verluste an Biodiversität und gewachsener Nutzungskultur könnte man schlussfolgern, dass hier eine kluge Bäuerin — oder Königin — gefehlt hat, die das Ganze vielleicht noch hätte verhindern können.
Folgen wir dem britischen Historiker David Blackbourn, liegt diese Sichtweise auf der Hand. In seinem Buch „Die Eroberung der Natur“ (3) beschreibt er die Entstehung der deutschen Landschaft, besonders im Kampf gegen das Wasser, als eine radikale Landnahme, die nicht nur in militärischen Begriffen beschrieben, sondern tatsächlich oft unter Zuhilfenahme von Soldaten erfolgte. Ihr Krieg gegen die Wildnis aber ist blind, er hat keinen Sinn für die Bedenken einer traurigen Frau. Alles Handeln ist auf die Disziplinierung, Zurichtung und Unterwerfung der Natur gerichtet. Die Wildnis ist der Feind, ihn gilt es zu bekämpfen und niederzuringen, Opfer sind dabei einkalkuliert.
Ist diese Sichtweise zutreffend? Immerhin hat Blackbourn sie mit vielen Beispielen belegt, die militärische und maschinelle Metaphorik bei der preußischen Binnenkolonisation lässt sich kaum von der Hand weisen. Und es soll auch nicht geleugnet werden, dass sich für den Preis, der damals und seither gezahlt worden ist, wohl heute kein zweites Mal jemand finden würde, der ihn zu zahlen bereit wäre. Kein Umweltamt könnte einen solchen Eingriff heute genehmigen und die moderne deutsche Gesellschaft würde diesen Weg der gesellschaftlichen Aneignung von Natur wohl kaum ein zweites Mal gutheißen.
Einiges möchte ich dennoch gegen Blackbourns Argumentation ins Feld führen. Zuerst: Er erweist einer wichtigen Mitspielerin des historischen Staatshandelns zu wenig Aufmerksamkeit, das ist die Not. Der Kampf gegen Wildnis, Wasser und Feuersbrünste war eine Auseinandersetzung mit Hunger, Krankheit und Tod.
Um ein Beispiel zu nehmen: In jedem Dorf und jeder Stadt haben die Bewohner eine jahrhundertelange Erinnerung der Verluste und Schäden bewahrt, die ihnen durch Brände entstanden sind. Man kann sich leicht vorstellen, welches Leid für die Menschen damals damit einherging. In Blackbourns Darstellung aber nehmen sich die Bemühungen der preußischen Regierung, die katastrophalen Brände in den Siedlungen zu bändigen, wie eine bloße Rechenaufgabe aus (4). Für ihn folgte die Etablierung eines modernen Netzes der Feuervermeidung und -bekämpfung nur einem kameralistischen Kalkül: Feuer vernichtet Staatsressourcen. Das ist eine der tatsächlichen Erfahrung von Bränden unangemessene Vereinfachung.
Mit den Hochwassern verhält es sich nicht viel anders — Blackbourn beschreibt ja selbst, dass das Leben am Wasser auch vor den massiven Eingriffen in die Gewässerlandschaften immer wieder von schrecklichen Verheerungen geprägt war. Hier einzugreifen ist mehr als ein die Natur disziplinierender Ehrgeiz, den man einem in der Festung Küstrin durch die Hinrichtung seines Busenfreundes gehärteten König anlasten kann.
Die wichtigste Rolle aber spielte — zweitens — die Ernährungssituation im 18. Jahrhundert. Die preußischen Landschaften bestanden entweder aus nährstoffarmen, sandigen und grundwasserfernen Standorten oder aus für die Landwirtschaft zu nassen Flächen. Der Begriff Melioration mag heute keinen durchweg guten Klang mehr haben, für das 18. Jahrhundert war er mit der Hoffnung auf eine Überwindung des Hungers verbunden. Die Stoff- und Energieströme jener Zeit waren räumlich viel stärker gebunden als heute, Essen wurde aus der eigenen Ernte gemacht — oder es gab kein Essen.
Ein weiterer Mangel dieser groß aufgemachten Landschaftsgeschichte: Sie fasst Entwicklungen verschiedenster deutscher Landschaften anhand heterogener historischer Belege und Zeugnisse zu einer einheitlichen Erzählung zusammen. Dieses Verfahren ist einer differenzierten Bilanz nicht eben förderlich. Man vergleiche nur die beiden fast aneinander grenzenden preußischen Meliorationslandschaften des Oderbruchs und des uckermärkischen Randow-Welse-Bruchs.
Die organischen Durchströmungsmoorböden an Randow und Welse wurden durch ihre Entwässerung verbraucht. Durch den Luftkontakt mineralisierten sie und wurden vom Wind weggeblasen.
Im Oderbruch dagegen erlauben die Auenlehmböden durchaus eine dauerhafte nachhaltige Nutzung. Diesem Umstand verdankt sich eine anhaltende ingenieurtechnische Auseinandersetzung mit den Techniken der Melioration. Über fast 300 Jahre hinweg ist an diesem Regime immer weiter gearbeitet worden, sodass man heute durchaus von einer riesigen, zusammenhängenden technischen Anlage sprechen kann, in der wasserbauliche Elemente in räumlicher Ausdehnung von über 60 Kilometer Luftlinie miteinander interagieren.
Über 80 Kilometer Hauptoderdeich gehören dazu, 288 Wehre und Staue, 35 Flächenschöpfwerke mit ihren Mahlbusen sowie drei Hochwasserschöpfwerke, dazu Gräben (Vorfluter II. Ordnung) in einer Länge von 1.250 Kilometer und größere Vorfluter (I. Ordnung) in einer Länge von 161 Kilometer. Hinzu kommen noch Hebeleiter und Siele, durch die das Oderwasser bei niedrigen Wasserständen gezielt in den Polder hineingeleitet werden kann, und 72 Pegelanlagen, mit denen im Zeitalter der elektronischen Datenübertragung die zentrale Steuerung der einzelnen Elemente ermöglicht wird (5).
Das geringe Gefälle, das die Oder in diesem Verlauf nun einmal hat, ist von Generation zu Generation immer besser genutzt worden, sodass die Anteile natürlicher Vorflut — also des Abflusses im freien Gefälle — gegenüber dem der künstlichen Vorflut — also des Abflusses durch Pumpen — stetig erhöht werden konnten und das System immer energieeffizienter wurde.
Betrachtet man die Hohensaaten-Friedrichstaler Wasserstraße, die den Rückstaupunkt der Oder noch einmal weit über das Oderbruch hinaus nach Norden verlängert hat, kann man nur über die raumübergreifende ingenieurtechnische Kühnheit staunen, die hier durchweg am Werk war. Angesichts dieses ausgefeilten Wassersystems wird man den Begriff Landschaftsmaschine nicht in abwertender, entlarvender Form gebrauchen, sondern im vollen Bewusstsein menschlicher Gestaltungskraft.
Das alles macht ungeheuer viel Arbeit, die täglich anfällt und verrichtet wird. Diese Arbeit ist von einer geradezu gärtnerischen Sorgfalt im Umgang mit dem Land und seinem Wasser geprägt und sie hat Hochwasserkatastrophen, Kriege und radikale gesellschaftliche Systemwechsel überdauert. Wie erklärt sich eine solche jahrhundertelange Kontinuität? Darauf hat Blackbourn keine befriedigende Antwort.
Meines Erachtens hat sie ihre Ursache darin, dass das Oderbruch überwiegend von freien Bauern besiedelt wurde, die ihre Interessen in der Gesellschaft immer wieder neu artikulieren konnten. Es war ein anhaltendes gesellschaftliches Ringen. Als bloßes Staatshandeln hätte die Geschichte des kolonisierten Oderbruchs wahrscheinlich nicht in die Gegenwart gereicht, die Landschaft hätte vermutlich irgendwann wieder extensiviert und wäre weitgehend aufgegeben worden. Aber die Kolonisten haben sich das Staatswerk angeeignet, in ihm selbst Verantwortung übernommen und immer wieder ihre Interessen geltend gemacht — und eben dadurch ist eine Kraft in der Region gewachsen, mit der sich die verschiedenen Regierungen immer wieder auseinandersetzen mussten.
Nun mag man ins Feld führen, dass der immense technische Aufwand zur Erhaltung des Oderbruchs in einem Verhältnis zum gesellschaftlichen Interesse stehen muss, und da sollte es doch erlaubt sein, dieses Interesse für die Gegenwart infrage zu stellen. Immerhin ist „Wildnis“ heute sehr populär, die Menschen sind satt, und es gibt auch weniger freie Bauern, also kommt es auf eine neue Kraftprobe an, in deren Folge sich das Staatshandeln neu ausrichten könnte.
Genau in dieses Horn stößt auch David Blackbourn. Er beendet sein Buch mit einem Ausblick in die Zukunft und diese heißt: Die Flüsse brauchen wieder mehr Raum und deshalb müssen Regionen an der Oder entsiedelt werden, wofür allerdings ein staatliches Handeln auf europäischer Ebene vonnöten ist. Die Eroberung der Natur ist beendet, es ist Zeit für den Frieden mit ihr. Mit dieser Forderung hat sich Blackbourn in Deutschland viele Freunde gemacht, denn vor allem akademische Städter finden es attraktiv, an der Oder wieder eine Wildnis gedeihen zu lassen und den ungeheuren technischen und finanziellen Aufwand zur Erhaltung des Oderbruchs einzustellen (6).
Blackbourn fordert aber nicht nur die Aufgabe von Siedlungsräumen, er sagt auch: Diese Aussicht sei ein Grund zur Freude, sogar für jene, die letztlich umgesiedelt werden müssten, auch wenn diese Menschen das zunächst sicher nicht so empfinden würden (7). Sein Optimismus ist nicht zu überlesen. Man hat die Geschichte erkannt, man weiß, was die historische Stunde geschlagen hat — der Preis muss gezahlt werden, es ist für einen guten Zweck.
So zeigt sich, dass Blackbourn doch nicht die Perspektive der traurigen Mutter am schwedischen Tåkern für sich beanspruchen kann, die da sagt: Nun lasst es gut sein. Er steht vielmehr in der Linie der zuvor kritisierten Eroberer, die nicht bereit sind, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, ob sie alle Konsequenzen des eigenen Handelns wirklich überblicken. Er fragt nicht nach den ungeplanten Folgen massiver staatlicher Renaturierungseingriffe in die heutige Landschaft, und hat keinen Sinn für den Verlust von natürlichen Kulturfolgern wie Feldlerche, Grauammer oder Feldhase. Die Sichtweise der Betroffenen wird von ihm geschichtsphilosophisch überbrückt (8): Renaturierung, das ist der Gang der Dinge.
Die Verhältnisse im Spiegel der Menschen
Spricht man mit den Menschen, die das Oderbruch bewohnen und bewirtschaften, bekommt man dagegen ein Verständnis für die Beziehung von Mensch und Wasser in dieser Landschaft. Mit anderen Kollegen befragte ich 2017 Mitarbeiter des Gewässer- und Deichverbandes, Krautbaggerfahrer und Ingenieure, Wissenschaftler und Bisamjäger, dann aber auch Anwohner, Landwirte und Fischer, Kommunalpolitiker und Deichläufer. Was hatten sie zu der Geschichte beizutragen? Welches Bild ergibt sich, wenn man ihre Perspektive einnimmt (9)?
In Bezug auf das Wassersystem zeigt sich zunächst ein recht ausgeprägtes kollektives Bewusstsein von dem, was es ist und ausmacht, und wie es funktioniert. Die Menschen drücken es klar und einfach aus: Die Oder liegt höher. Wir haben einen immensen Drängewasserzustrom. Bewältigt wird das Wasser von einem einzigartigen Pumpensystem. Ihnen ist bewusst, welch wertvolle Böden durch die Melioration nutzbar geworden sind: Das ist hier ein guter Boden, selbst wenn viel Trockenheit ist, die Wurzeln vom Weizen finden noch Wasser. Dabei zeigt sich, dass nicht nur andere einen Preis für die Eingriffe in der Landschaft zu zahlen haben, sondern man auch immer selbst Gewinne und Verluste erfährt, sei es als Beiträge zahlender Landwirt oder als Bewohner, der mit feuchten Kellern und anderen Widrigkeiten fertigwerden muss: Als wir gerade unser Haus einigermaßen fertig hatten, kam die Melioration, da sind die Fenster rausgefallen.
Obwohl die Oderbrücher ihr eigenes Wasserregime besser begreifen als die meisten Außenstehenden, schätzen selbst Experten ihren eigenen Horizont durchaus bescheiden ein: Ich muss gestehen, dass ich Jahre brauchte, um zu verstehen, wie das Oderbruch funktioniert; und dieser Prozess dauert bis heute an. Das Bewusstsein, in einem künstlichen System zu leben, ist omnipräsent: Es funktioniert eben nicht, dass man das Wasser sich selbst überlässt. Allerdings wird die eigene Landschaftsgeschichte durchaus in ihre wechselnden Rahmenbedingungen eingeordnet und kritisch reflektiert. Jede Zeit hat ihre Politik. Und die schießt in allen Zeiten ein Stück übers Ziel hinaus. Auf dieser Grundlage kann man auch einschätzen: Wenn man heute die Melioration machen würde, würde man mehr ökologische Nischen lassen. Aber es ist nicht grundsätzlich alles so verkehrt gewesen, wie es heute dargestellt wird. Ebenso gibt es einen ausgeprägten Sinn für die komplizierte soziale Ausbalancierung, die ebenfalls im Wasserregime des Oderbruchs steckt: Der Umgang mit dem Wasser ist immer der Zankapfel zwischen einzelnen Interessen.
Die Tiere, die das Oderbruch gegenwärtig bevölkern, sind Teil der eigenen Welt: Man sieht Singschwäne und Seeadler. Und dann sind da Rohrdommeln im Schilf. Die wenigen verbliebenen Fischer legen Wert darauf, dass sie nicht nur Handel treiben: Fischerei ist für mich Fische fangen. Wenn wir nur noch handeln, kann ich auch Obst verkaufen. In der Bewirtschaftung versuchen die Menschen, die Spielräume für natürliche Prozesse in der Landschaft zu vergrößern: Wenn eine Seite des Gewässers ungemäht bleibt, gibt es dort gute Rückzugsorte für die Tiere. Eine ausgeprägt respektvolle Haltung gegenüber der Fauna macht sich selbst dort bemerkbar, wo sie permanent in Schach gehalten wird: Wenn ich einen toten Bisam aus der Falle genommen hab, nehme ich einen Spaten, hebe ein Loch aus und begrabe ihn, beschreibt der Bisamjäger seine Arbeit. Und immer wieder wird deutlich, dass die Menschen den Raum bevölkern, dass sie seine Gestalt und Veränderung körperlich erfahren: Durch die Stromoder bin ich bei Niedrigwasser auch mal nach Polen gelaufen.
Ärgernisse mit der nie ganz gebändigten Natur bleiben nicht aus, vor allem machen einst ausgerottete Nager Sorgen: Diese Bibereinbauten sind wirklich ein großes Problem, denn gerade beim Deich gilt: Der ist nur so stark, wie sein schwächstes Glied. Für diese Einschätzung gibt es oft eine persönliche Resonanz: Meine Obstplantage wurde vom Biber abgeholzt. Aus dieser Betroffenheit resultieren immer wieder Konflikte mit der Landesregierung, die mit schnoddrigem Witz kommentiert werden: Die Biber können sie gern in Sanssouci wiederansiedeln, vielleicht merken die es dann endlich.
Und natürlich stellen die Menschen hier unangenehme Fragen, wo der gesellschaftlich ausgehandelte Artenschutz die gebaute Landschaft konterkariert: Werden die Kommunen entschädigt für die Schäden durch unterhöhlte Straßen und ähnliches? Es gibt dabei ein einfaches Prinzip der Abwägung, über das sich im Grundsatz alle einig sind: Das System ist zu komplex für rigorose Lösungen — egal, ob es um Naturschutz, um Landwirtschaft, Sicherheit oder Schönheit der Landschaft geht. Die Schönheit, die Natur und die Bedürfnisse des menschlichen Lebens, all diese Belange verdienen Beachtung: Als geborener Oderbrüchler sieht man hier ein Gleichgewicht: Man sieht die Eigenheiten der Landschaft — das Wasser, dass man so weit schauen kann. Aber man sieht auch, dass man von ihr leben muss.
Werfen wir von hier aus einen Blick auf die Katastrophen, die das Oderbruch erlebt hat und die ihm sicher auch wieder bevorstehen. Die großen Fluten sind es ja, die den Befürwortern einer Entsiedlung als stärkstes Argument dienen. Wie werden sie von den Bewohnern und Bewirtschaftern des Oderbruchs reflektiert?
Natürlich stoßen wir auf eine ausgeprägte Erinnerung an die Hochwasser 1947 und 1997. Diese beiden Ereignisse sind durch die Zeitzeugenschaft am tiefsten im kollektiven Bewusstsein verankert und sie markieren zugleich Pole der Erfahrung von Hochwasserereignissen: Winter- und Sommerhochwasser, erlittene und abgewehrte Katastrophen, Zeit der Armut, Zeit des Wohlstands, Unglück und Glück. Folglich werden diese beiden Ereignisse auch oft miteinander in Beziehung gesetzt: Ich war mir von Anfang an darüber klar, wenn sie evakuieren würden, würde ich bleiben und auf unseren Hof aufpassen. Genau wie meine Tante 47 auf dem Hof geblieben ist. Obwohl die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg existenzieller war, schwächt die kulturelle Disposition des Wohlstands die Fähigkeit, so eine schlimme Flut überhaupt zu ertragen: Wir haben 1997 viel mehr gezittert als 1947.
In den Beschreibungen der Ereignisse und ihrer Erfahrungen drücken sich die Menschen bildhaft und plastisch aus. 1947 stand in Reetz das Wasser zu Ostern so hoch, dass die Wellen bis an die Dachrinnen geschlagen sind. Und dann: Ich saß auf dem kleinen Trecker mit dem Gummiwagen dran und ich habe so geweint — die ganzen Felder, das Getreide, das hat so schön gewogt. Trauer über den Verlust und Liebe zur Landschaft sind in diesem Satz aufs äußerste gespannt, farbenreich werden Bilder und Gefühle im Angesicht der Katastrophe gemalt. Die sicherste Instanz ist der unbedingte Wille, sein Haus nicht zu verlassen. Von diesem Willen geht der Impuls aus, sich in der Hochwasserabwehr zu engagieren: Dann werde ich eben Deichläufer, dann habe ich einen Grund hierzubleiben.
Wer vor Ort war, erzählt von Angst und Angespanntheit: Der Deich bei Altglietzen ist ja fast gebrochen, da gingen hier die Sirenen und die Glocken haben wie wild geläutet. In der Beschreibung des 1997er Hochwasserscheitels verschmilzt ein physikalischer Zustand geradezu mit einer subjektiven Empfindung: Das war bleiern, vielleicht zwei Stunden, wo die Oder den Höchststand hatte, ich kriege immer noch Gänsehaut. Ein gern gebrauchtes Bild ist: Der Deich war aufgeweicht wie ein Wackelpudding.
Häufig wird die gemeinsame Anstrengung als etwas Schönes erfahren: Mit den Leuten, die noch da waren, gab es 1997 einen wahnsinnigen Zusammenhalt. Dabei werden durchaus unterschiedliche Betroffenheiten erkannt, denn es berührt die Nachbarn zu sehen, wie die Bauern ganz verzweifelt waren, weil sie nicht wussten, wohin sie ihr Vieh bringen sollten. All die Bilder und Erinnerungen gerinnen zu einer bis heute anhaltenden Dankbarkeit: Dass der Deich gehalten hat, war ein Wunder. „Das Wunder von Hohenwutzen“, haben manche gesagt.
Von hier aus richtet sich der Blick der Menschen auf die Zukunft. Das menschliche Leben in diesem besiedelten Polder ist zuerst von ernüchternden Einsichten geprägt, die die Begrenztheit menschlicher Lernmöglichkeiten klar benennen: Jedes Hochwasser ist ein Einzelfall. Das bedeutet: Wir können uns kaum eine Vorstellung von dem machen, was auf uns zukommt, und wir können uns auch nicht auf jede Möglichkeit vorbereiten. Dazu kommen Veränderungen in der Natur, die nicht eben optimistisch stimmen: Der Anstieg des Meeresspiegels ist ein Fakt. Allein durch Wind und Stau von der Ostsee haben wir bis zu 50 cm höhere Wasserstände an der Schleuse in Hohensaaten. Wie immer man diese Veränderungen einschätzt, es gilt stets, sich der eigenen Gefährdung und der begrenzten menschlichen Kraft bewusst zu sein: Ich habe Respekt vor der Oder, denn ich weiß, dass sie in bestimmten Bereichen unberechenbar ist.
Man kann dennoch einige Dinge festhalten, die die Sicherheit des ganzen Systems betreffen. Erstens: Wir können sagen: Was menschenmöglich ist, wurde an den Deichen gemacht. Das ist schon eine Grundlage, in der die Bewohner des Bruchs auch den häufig infrage gestellten Rückhalt der Gesellschaft erlebt haben. Dabei gibt es weitere Dinge, die zu beachten sind: Das A und O sind funktionierende Buhnen in der Oder, und: Wir brauchen eine Schifffahrt, die die Sedimente nach stromunterhalb befördert. Das tägliche Leben und Bauen muss unterdessen auch auf den schlimmsten Fall eingestellt sein, wie er eben im Oderbruch — vor und nach den großen preußischen Eingriffen — immer wieder zu bewältigen war: Ein ordentlicher Ziegel- oder Fachwerkbau übersteht das, der Rest ist Risiko.
Dabei muss man sich nicht nur auf die Hilfe von außen verlassen, sondern auch auf sich selbst und das, was man bewältigt hat: Bis jetzt haben unsere Systeme funktioniert. Ein immer gefährdetes Leben am Wasser braucht nicht nur Technik, es braucht auch besondere Menschen. Und für diese Menschen lässt sich sagen: Wenn man sich durch das Wasser ständig bedroht fühlt, dann ist man hier nicht richtig.
Respekt und Stolz, Zupacken und Beobachten, Dankbarkeit und Traurigkeit, Nüchternheit und Leidenschaft, all diese Aspekte finden sich in den Beschreibungen der Oderbrücher von ihrem Leben am Wasser. Es ist keine Haltung von Eroberern, die in einer feindlichen Aggression gegenüber der Natur verharren, es ist vielmehr ein Komplex aus Wissen, Empfindungen und Einsichten, der aus Schaden und Erfahrung und durch Generationen andauernde Mühen hervorgegangen ist.
Die Natur ist weder Freund noch Feind, sie ist, und sie ist wichtig.
Über die Gefährdung des menschlichen Lebens und über die Zerbrechlichkeit des jetzigen Systems macht sich im Oderbruch niemand Illusionen. Und dennoch leben die Leute hier. Warum?
Auf diese Frage gibt es eine sehr einfache Antwort: Weil es Menschen sind. Die Bewohner des Oderbruchs tun nichts anderes als alle anderen Menschen auf der Welt. Überall ist das menschliche Leben in der Natur gefährdet — und auch Ballungsräume liegen in der Natur. Überall drohen unsere Aneignungen umzuschlagen in Katastrophen und kollabierende Systeme, durch Bodenvernichtung und -erosion oder die Akkumulation von Schadstoffen in den Ökosystemen.
Die Besonderheit des Lebens im Oderbruch liegt darin, dass in dieser kleinen Landschaft ein zentrales Element der Natur über 300 Jahre die volle menschliche Aufmerksamkeit genoss — das Wasser. Eine solch anhaltende Aufmerksamkeit, wenn sie nicht auf wenige Experten beschränkt bleibt, sondern ein kollektives Bewusstsein prägt, macht klug — sie lehrt Maß halten, vorausschauen, handeln, abwägen. Die Propheten eines vermeintlichen neuen Friedens mit der Natur könnten einiges von dieser Klugheit lernen. Sie müssten nur zuhören.
Erschwerte Bedingungen
Die Voraussetzungen für einen gelingenden Diskurs über die Wasserverhältnisse im Oderbruch sind allerdings in den letzten Jahren nicht besser geworden. Im Rahmen eines Abkommens zur Stromregelung in der Stromoder hat Polen in der jüngeren Vergangenheit — mit einem jahrzehntelangen planerischen Vorlauf — entlang seiner Uferlinie Buhnen gebaut und erneuert, in den nächsten Jahren ist die Fortsetzung dieser Arbeit am deutschen Ufer geplant (10).
Für die Oderbrücher war das zunächst nichts Aufregendes, Buhnen gehören für sie seit langer Zeit zum Erscheinungsbild der Oder, infolge des geringen Gefälles dieses Flusses leuchtet die Notwendigkeit des Sedimenttransports auch ein. Allerdings haben nun viele Umweltverbände diese Maßnahmen in ein kritisches Visier genommen, was zu einer heftigen öffentlichen Auseinandersetzung führt, in der ökologische Schäden befürchtet und die wirtschaftlichen Aspekte des Vorhabens infrage gestellt werden (11).
Eine jahrlange hochaggregierte ingenieurtechnische Planung trifft auf einen Umweltdiskurs, der die Oder als letzten natürlichen Flusslauf Europas beschreibt. Es nimmt nicht Wunder, dass die Menschen in den betroffenen Regionen damit überfordert sind, sich ein Urteil zu bilden: Hier immer neue Kampagnen, dort Bagger am Flussufer.
Als wäre es damit nicht schon kompliziert genug, wurde die Oder im August 2022 von einem verheerenden Fischsterben heimgesucht, das sich mit dem Fluss gespenstisch stromabwärts bewegte. Tausende toter Fische und Muscheln schwammen an der Wasseroberfläche, viele wurden an Land geschwemmt, verwesten dort oder wurden gefressen, andere trieben ins Haff oder wurden an Sperren abgefangen.
Da man nicht wusste, ob das Sterben durch toxische Schwermetalle oder andere Chemikalien verursacht wurde, die über Säuger und vor allem über die Vögel in die Nahrungskette gelangen könnten, sammelten viele Freiwillige die Kadaver ab. Der Anblick war schockierend: winzige Quappen, riesige Zander, Hechte, Rotfedern, Bleie, tote Muscheln; es war, als läge die tierische Nahrungskette des Wassers ausgebreitet und stinkend am Ufer.
Unter den Menschen im Oderbruch machte sich in diesen Tagen eine große Trauer breit, die bald darauf in Agonie oder Zorn überging. Denn schon drei Wochen später verschwand das Thema weitgehend aus den überregionalen Medien, nachdem diese der Region zuvor noch, sozusagen zum Abschied, einen schweren Imageschaden bescheinigt hatten. Dass es viele Jahre dauern würde, bis sich der Fluss erholt, wie noch in den ersten Tagen zu hören war, klang nun schon nach einer seltsamen Vereinfachung und Verharmlosung, denn es blieb ja offen, ob die Faktoren, die das Sterben verursacht hatten, wirklich erkannt und abgestellt würden.
Hatte man es nicht eher mit einer dauerhaften, wiederkehrenden Erscheinung zu tun? Es schien, als würde das Bild dieser Katastrophe von Tag zu Tag unschärfer. Den Leuten brannte es aber auf den Nägeln. Anwohner, die selbst gezogenes Gemüse an der Straße anbieten, wurden von den Touristen spöttisch gefragt, ob sie denn mit Oderwasser gegossen hätten?
Die Angler sahen besorgt, dass auf einmal auch in der alten Oder tote Fische schwammen, sei es aus Sauerstoffmangel — die Wasserzufuhr aus der Stromoder wurde ja unterbrochen —, sei es aufgrund eines bereits erfolgten Eintrags. Man las von Protesten in Polen gegen den fahrlässigen politischen Umgang mit der Oder, aber zu einer eigenen Rolle hatte man in dieser Geschichte darum noch lange nicht gefunden. Ein Dialog zwischen Deutschland und Polen als den betroffenen Flussanrainern war für die Öffentlichkeit nicht beobachtbar.
Je länger die Analyse der Ursachen auf sich warten ließ, umso mehr Gerüchte rankten sich um die Ereignisse, die Erklärungsversuche reichten von Umweltkriminalität über Niedrigwasser bis zum Klimawandel, am besten alles auf einmal. Langsam setzte sich die Erklärung durch, dass die Einleitung von Salzen aus dem schlesischen Bergbau die massenhafte Vermehrung einer toxischen Goldalge verursacht hatte, die die Atmung der Tiere blockierte. Die Naturschutzverbände verknüpfen die Ereignisse nun umgehend mit den Baumaßnahmen an der Oder im Rahmen der genannten Stromregelungskonzeption und sehen im Fischsterben ein schlagendes Argument für ihre Forderung nach deren Einstellung.
Um einen Ausdruck für die verzweifelte Situation zu finden, erging im Sommer 2022 ein Aufruf, am Oderufer mit einem Instrument Platz zu nehmen und für den Fluss Musik zu machen. Die Kadaver am Oderstrom waren verschwunden, alle schauten in einen Abgrund, der nichts preiszugeben schien, außer: Der Mensch macht Schaden, er soll sich aus dem Spiel nehmen.
Staat und Bürger — von der Auflösung einer Beziehung
Was sich an der Oder in den letzten drei Jahren abgespielt hat — im Wasser, in den Zeitungen, bei Protesten an den Ufern und nicht zuletzt zwischen den Menschen — das ist exemplarisch für die zusehends verwirrende Beziehung zwischen Bürgern und Staatlichkeit in der Gegenwart.
Mehr als zehn Generationen lang und unter verschiedenen Systembedingungen konnten die Oderbrücher unschwer ihr institutionelles Gegenüber im Staat identifizieren und dementsprechend auch ihre eigene politische Willensbildung gestalten. Die Dialektik von bürgerschaftlichem und Staatshandeln war für jedermann leicht zu beobachten, und sie sicherte der Landschaft eine Entwicklung, in der gesellschaftliche Lernprozesse stattfinden konnten.
Heute dagegen verschwimmen lokale, regionale, staatliche und internationale Interaktionen zu einer lähmenden Gemengelage, in der die demokratischen Aushandlungsprozesse ebenso amorph werden wie die fachlichen Perspektiven und die medialen Allianzen. Die Menschen stehen in Verhältnissen, die erkennbar unbefriedigend sind und ihre Lebensgrundlagen gefährden, sie finden aber kein Gegenüber mehr, mit dem sie ihre Situation einem Klärungsprozess unterziehen können. Gibt es aus dieser Unübersichtlichkeit einen Ausweg?
Die Antwort ist nicht originell, sie ist lang erprobt und immer wieder die gleiche: Wo sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Leben auflösen, müssen sie kommunal reorganisiert werden, um neue Handlungssouveränität aufzubauen, die allein schließlich auch die gesellschaftliche Kommunikation erneuern kann.
Die Gestaltung der Wasserverhältnisse im Oderbruch betrifft die dort lebenden Menschen, sie kann allerdings nicht von ihnen allein gewährleistet werden. In dieser Asymmetrie der Abhängigkeiten gibt es nur einen Ausweg. Das Dickicht aus ökologischen Warnungen, wissenschaftlichen Modellierungen, journalistischen Sympathien und politischen Rücksichten muss durch eine klare Instanz entwirrt werden: durch das Interesse der Menschen im betroffenen Siedlungsraum. Von diesem Interesse lassen sich keine fertigen Lösungen ableiten, dafür aber alle wichtigen Fragen, die zu stellen und zu beantworten sind.
Für das in Jahrhunderten gewachsene landschaftliche Wissen und auch für die gewonnene Klugheit der Oderbrücher im Umgang mit ihrem Wasser braucht es aber Resonanz, so wie sie einst Selma Lagerlöf für die Menschen am schwedischen Tåkern gezeigt hat. Denn die Gesellschaft wird dieses Wissen ohne eine intellektuelle oder künstlerische Verarbeitung weder wahrnehmen noch anerkennen.
Am 22. März ist wieder der jährlich wiederkehrende Weltwassertag. Es ist wichtig, dass Medien es nicht dabei bewenden lassen, stets nur auf den neuesten Wahnsinn in der Welt zu reagieren, sondern selbst in das Agieren kommen. Deshalb setzen wir zusammen mit einer Reihe von weiteren Medienportalen selbst ein Thema auf die Agenda. Die beteiligten Medienpartner, bei denen in der Woche vom 18. bis 24. März im Rahmen des #Wasserspezial Beiträge zu finden sein werden, sind derzeit:
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Selma Lagerlöf, Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, Nymphenburger Verlagshandlung, München, 32. Auflage, 2002. Es gibt inzwischen eine neue und wahrscheinlich genauere Übersetzung, die hier genutzte ist meines Erachtens in Beug auf das beschriebene Ereignis etwas aussagekräftiger.
(2) Lagerlöf, a.a.O., S. 153
(3) David Blackbourn 2006: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der Deutschen Landschaft. München
(4) Blackbourn, a.a.O., S. 59
(5) Diese Angaben sind der Webseite des Gewässer- und Deichverbandes Oderbruch entnommen, www.gedo-seelow.de, abgerufen am 2. September 2017
(6) Siehe dazu meine Beschreibung „Ein Stammtisch aus Elfenbein“ in: K. Anders (2011): Latte Macchiato im Busch. Kolumnen über Stadt und Land: 67-73
(7) Blackbourn äußert sich hinsichtlich der Chancen, das Oderbruch zu entsiedeln, nicht wirklich optimistisch. Sein Blick in die Zukunft bleibt in Bezug auf die nun tatsächlich betroffenen Räume ungenau. Wer sich die konkret betroffenen Räume anschaut, muss sich darüber nicht wundern, denn Polder, die man fluten könnte, gibt es nicht allzu viele. Auf diese Weise stehen dann letztlich doch die Niederungslandschaften an der Oder überhaupt zur Disposition, denn sie alle gehören ja zur eroberten Natur. „Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass das Oderbruch bei Hochwasser als Rückhaltebecken genutzt und vorsätzlich geflutet wird (es gibt Flächen im Norden und Süden, die heute diesen Zweck erfüllen), und wenn die Strategie des ökologisch nachhaltigen Hochwasserschutzes erfolgreich ist, dann wird das Bruch sicherer sein, als es in der Vergangenheit jemals war. Doch andere Polder an anderen Stellen wird man überschwemmen müssen, wenn diese Politik gelingen soll, und die Menschen, die dort leben, werden den Verlust spüren. Ihre Unsicherheit wird ein Ende haben, aber nur um den Preis einer Umsiedlung. Es wäre sehr wahrscheinlich kein Trost für sie, wenn man ihnen sagte, auch wenn es wahr ist, dass die heute verfolgte Strategie nicht nur umweltfreundlicher ist, sondern auch ein höheres Maß an wirklicher Sicherheit für die meisten Menschen verspricht, die an der Oder leben. Und es würde sie zweifellos ebenfalls nicht trösten, obwohl auch dies der Wahrheit entspräche, dass diese Politik nur durch ein Abkommen zwischen Deutschland, Polen und Tschechien unter der Schirmherrschaft der EU gelingen kann. Diese beiden Wahrheiten sollten für uns Übrige jedoch ein Grund zur Freude sein, da während der meisten Zeit der in diesem Buch behandelten Periode die Idee, dass die Natur erobert werden müsse, beherrschend war, und die ‚Eroberung der Natur‘ in Deutschland allzu sehr mit der Eroberung von anderen verbunden war.“ Blackbourn, S. 439f
(8) Zuerst und in großer Klarheit ist die Argumentation Blackbourns von Bernd Sauerwein kritisiert worden: „Was Blackbourn als ‚Grund zur Freude' feiert, die ‚Schirmherrschaft der EU', war für alle Großprojekte grundlegend: Eine starke zentrale Staats- resp. Territorialgewalt zur Durchsetzung der Großprojekte gegen lokalen Widerstand. So wurde, wie auch von Blackbourn anekdotisch berichtet, schon die Trockenlegung des Oderbruches durch das Preußische Reich gegen den lokalen Adel und die Rektifikation des Rheines bereits in internationaler Zusammenarbeit durchgesetzt. Vor allem sind die Großprojekte durch Vertreibung und durch leidvollen Verlust von Heimat, Besitz, Arbeits- und Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung einerseits und durch die Verheißung eines ‚besseren' (jetzt ‚sicheren') Lebens für die ‚Übrigen' andererseits gekennzeichnet. Aufmerksam, von den Anekdötchen und Geschichtchen unabgelenkt gegen den Strich gelesen, wird durch die Erzählung auch klar, dass entgegen dem immer eintreffenden Leid die Verheißungen nie eintrafen, jedenfalls nicht in der geplanten oder beabsichtigten Weise. An der Oder wird dies in einigen Jahren und dann leider leidvoll mit dem nächsten Hochwasser eintreffen und ärgerlicherweise von Planern wie Politikern in dem Jargon, den Blackbourn anschlägt, bedauert. Dies wird weder für die Zwangsumgesiedelten noch für die dennoch Überschwemmten tröstlich sein, obwohl oder gerade weil dies ganz besonders der Wahrheit entspräche. Und dies sollte auch für ‚uns Übrige' kein Grund zur Freude sein.“ Sauerwein, Bernd. 2008: Die Natur der Eroberung. Rezension von David Blackbourn 2006: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der Deutschen Landschaft. in Notizbuch 73 der Kasseler Schule: 190-192. Selbstverlag der AG Freiraum und Vegetation Kassel
(9) Die folgenden, kursiv gesetzten Zitate, sind nachzulesen in: Kenneth Anders, Lars Fischer, Tina Veihelmann, Georg Weichardt et al: WASSER. Jahresthema 2017 Oderbruch Museum Altranft. Fotografien von Stefan Schick und Ulrich Seifert-Stühr und Berichte zum Thema Wasser im Oderbruch. Aufland Verlag, 2017. Ich verzichte hier darauf, sie einzeln nachzuweisen.
(10) Vgl. Astrid Ewe, Konzepte und Ideen für die Oder-Integration verkehrlicher und wasserwirtschaftlicher Maßnahmen, in: Bundesanstalt für Wasserbau, Kolloquium Flussbauliche Herausforderungen an der Elbe im Wandel der Zeit, 5. bis 6. Oktober 2022
(11) Deutscher Naturschutzring